Rosa Luxemburg wäre heute 150 Jahre alt geworden.

„Sie hat das Leben einer freien Frau geführt“

Claus-Jürgen Göpfert (Frankfurter Rundschau) im Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger.

Was für die Zeit, in der Rosa Luxemburg gelebt hat, alles andere als selbstverständlich war. Anlässlich des 150. Geburtstags der Freiheitskämpferin erzählt der Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger, warum ihre Ideen und ihre Kritik noch immer aktuell sind.

Herr Gietinger, vor 150 Jahren, am 5. März 1871, wurde in Ostpolen Rosa Luxemburg als Tochter eines wohlhabenden jüdischen Holzhändlers geboren. Was geht uns diese Frau heute noch an? - Sehr viel. Sie war zum einen eine engagierte Gegnerin des Militarismus und des Krieges, als eine der wenigen Führungsfiguren in der Sozialdemokratie damals. Dieses Engagement ist heute aktueller denn je, wenn sie zum Beispiel an die Debatte darüber denken, ob die Bundeswehr Krieg in Afghanistan führen sollte. Rosa Luxemburg hat sich zum zweiten sehr für die Rechte und die Gleichberechtigung der Frauen eingesetzt, auch dieser Kampf ist weiter im Gange. Zum dritten war sie eine hervorragende Wirtschaftswissenschaftlerin, die für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eintrat. Auch dieses Ziel ist bis heute nicht erreicht.

Der berühmteste Satz, der von Luxemburg stets zitiert wird, ist, dass Freiheit immer nur die Freiheit der Andersdenkenden sein könne. Aber tatsächlich hat sie doch auch eine Diktatur des Proletariats befürwortet, oder? - Tatsächlich hat Luxemburg immer für einen Sozialismus von unten plädiert. Sie war klar für Entscheidungen einer gesellschaftlichen Mehrheit und hat klar gesagt, ein sozialistisches Gesellschaftssystem kann es nur geben, wenn eine Mehrheit das will. In einer Studie zur Entwicklung der jungen Sowjetunion von 1918 kritisierte sie offen, dass es kein allgemeines Wahlrecht gibt. Es ist unheimlich, dass sie die spätere politische Fehlentwicklung in der UdSSR genau vorausgesagt hat. Sie schreibt: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution.“ Die Menschen würden dann nur zusammengerufen, „um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde genommen also eine Cliquenwirtschaft“. Genau das hat sich dann in der Sowjetunion entwickelt.

Am 30. Dezember 1918 gab es in Berlin die Gründungsversammlung der KPD, in der es um die Frage ging, wie sich die Linke jetzt verhalten müsse. - Ja, und Rosa Luxemburg hat in dieser Versammlung ganz deutlich dafür plädiert, dass die KPD sich an den ersten freien Wahlen in Deutschland beteiligen müsse. Doch dafür gab es in der Versammlung keine Mehrheit.

In den Jahren zuvor, auch bereits vor dem Ersten Weltkrieg, hat sich Rosa Luxemburg öffentlich in zahlreichen Auftritten gegen den Krieg ausgesprochen. - Ja, sie war ja eine sehr gute Rednerin, die Leute mitreißen konnte. Eine weitere Leidenschaft war das Schreiben, sie hat ununterbrochen geschrieben, auch Briefe. Sie trat für die SPD gegen einen Krieg auf, auch in Frankfurt hielt sie 1913 eine Rede in der Titania in Bockenheim, in der sie sagte, die deutschen Arbeiter dürften sich nicht gegen die französischen Arbeiter zum Krieg aufhetzen lassen. Unter anderem für diese Rede wurde sie dann ins Gefängnis geworfen. Sie hat sich zugleich in der SPD innerparteilich mit den berühmten Alten angelegt. Als sie sich 1898 in Berlin der SPD anschloss, schrieb sie in einem Zeitungsbeitrag, Bebel sei alt, Kautsky ein alter Affe, Ledebour eine Wetterfahne und Clara Zetkin schnattere zu viel und besitze keine eigene Meinung.

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, musste sie erleben, dass die SPD-Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite stimmte, die es ermöglichten, den Krieg zu führen.                                                                                                                                                                        - Ja, das hat sie zutiefst erschüttert. Sie reagierte mit einem Weinkrampf und dachte an Selbstmord. Die Nachricht von der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten hat man übrigens im Ausland zunächst nicht geglaubt, man hielt das für Fake News.

Wie würde Rosa Luxemburg heute das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan sehen?                                                                           - Sie würde es als Beteiligung der deutschen Armee an einem imperialistischen Krieg und als grundfalschen Einsatz kritisieren. Luxemburg hielt einen Krieg nur als Verteidigungskrieg für zulässig, also im Falle eines Angriffs auf Deutschland. Dass Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer sogar deutsche Kriegsschiffe ins Südchinesische Meer entsenden möchte, würde sie entsetzen. Aber noch einmal: Rosa Luxemburg war keine Pazifistin, sie hielt eine Verteidigung gegen einen imperialistischen Krieg für zulässig.

Wie denken Sie persönlich über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan? - Ich denke, man sollte ihn beenden. Der Westen führt dort jetzt seit zwanzig Jahren Krieg und die Lage im Land hat sich nicht verbessert, sondern eher verschlimmert. Ich denke, dass die Menschen dort selbst über ihre Zukunft entscheiden sollten.

Zurück zu Rosa Luxemburg: Trotz ihrer Bedenken hat sie zur Jahreswende 1918/1919 dann den bewaffneten Aufstand unterstützt. Warum hat sie das getan, musste sie nicht wissen, dass das in einer Katastrophe enden würde? - Sie schwankte damals total hin und her. Sie hat sicherlich gehofft, dass es gelingen würde, die SPD-geführte Reichsregierung abzulösen. Es waren ja Hunderttausende mit diesem Ziel auf den Straßen.

Die rechten Freikorps haben dann in Berlin Jagd auf Rosa Luxemburg gemacht und sie umgebracht. - Ja. Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Offizieren der Garde-Kavallerie-Schützendivision ermordet. Der sozialdemokratische spätere Reichswehrminister Gustav Noske, der zu dieser Zeit noch Oberbefehlshaber in der Region Berlin war, hat dem Kommandeur der Division, Waldemar Pabst, dabei freie Hand gelassen. Ich beschäftige mich seit mehr als zwanzig Jahren mit diesem Thema und konnte die Ereignisse zweifelsfrei aufklären. Die wahren Vorgänge wurden lange Zeit vertuscht und die Mörder wurden damals laufen gelassen.

Noch einmal zu der Frage, was von Rosa Luxemburg heute bleibt. Wir haben noch nicht über ihr Engagement für die Frauen gesprochen. - Rosa Luxemburg hat durch ihr Leben ein Beispiel gegeben für viele Frauen. Sie hat für das Frauenwahlrecht gekämpft, das dann tatsächlich am 9. November 1918 in Deutschland eingeführt wurde. Sie hat das Leben einer freien Frau geführt. Sie hat sich ihre Lebenspartner selbst gewählt, was damals alles andere als selbstverständlich war.

Sie haben vorhin bereits ihren Kampf gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung erwähnt. - Ja, tatsächlich hat sie damals bereits befürchtet, dass der maßlose Kapitalismus in die Katastrophe führe. Diese Entwicklung bestätigt sich jetzt durch den Klimawandel als Folge eines ungezügelten kapitalistischen Wirtschaftens. Rosa Luxemburg hat geschrieben, dass das Gegenteil des Sozialismus die Barbarei sein werde. Sie hat die ökologische Katastrophe, die wir gegenwärtig erleben, also durchaus vorhergeahnt. Ihre Kritik des Kapitalismus ist noch immer aktuell.

In einem Ihrer Bücher beschreiben Sie, dass der gesellschaftliche Wandel, der von der politischen Linken in den Kämpfen in Deutschland Ende 1918/Anfang 1919 angestrebt wurde, unvollendet blieb. - Das ist tatsächlich so. Lassen Sie uns einen Blick in das Programm werfen, das die SPD bei ihrem Parteitag 1891 in Erfurt beschlossen hatte. Eines der Ziele war damals eine demokratische Armee, die mehr den Charakter einer Miliz haben sollte. Ein zweites Ziel war die Vergesellschaftung der großen kapitalistischen Wirtschaftsunternehmen. Diese Beschlüsse der SPD von 1891 sind nach wie vor nicht umgesetzt. Die Bundeswehr ist keine demokratische Armee im Sinne des Erfurter Programms. Und die kapitalistischen Verhältnisse sind nicht überwunden. Für diese Ziele zu kämpfen, das ist das politische Erbe von Rosa Luxemburg.

Zur Person Klaus Gietinger, 66, ist Sozialwissenschaftler, Autor und Regisseur. Er wurde in den 70er und 80er Jahren durch kritische Dokumentarfilme über seine Allgäuer Heimat bekannt. „Daheim sterben die Leut“ von 1984 ist ein Kultfilm.

In seinen Filmen hat er sich mit vielen zeitgeschichtlichen Themen beschäftigt. Er beleuchtete die Strecken-Stilllegungen der Deutschen Bahn („Heinrich der Säger“, 2000) und legte einen langen Dokumentarfilm über Hitlers „Mein Kampf“ vor (2016). Seine Arbeit „Wie starb Benno Ohnesorg“ (2017) war für den Grimme-Preis nominiert. Er konnte darin beweisen, dass der Student Ohnesorg vom Polizisten Karlheinz Kurras am 2. Juni 1967 in Berlin ermordet worden war.

In seinen Büchern setzte er sich kritisch mit der Rolle des Autos auseinander („Totalschaden“, 2010, „Vollbremsung“, 2019). Schon 1993 legte er ein erstes Buch über die Ermordung Rosa Luxemburgs vor („Die Leiche im Landwehrkanal“), das dann 2009 in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung erschien. Es folgten unter anderem „November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts“ (2018) zum niedergeschlagenen Aufstand 1918/1919 und ein Buch über den rechten Kapp-Putsch 1920.

Gietinger drehte aber auch zahlreiche „Tatort“-Krimis und führte Regie bei der Kinderserie „Löwenzahn“ im ZDF. jg-